Fallbeispiel

Fallbeispiel

Ich wurde von früh an von meiner Mutter geschlagen. Meine Mutter und ich hatten nie ein gutes Verhältnis zueinander, genauso wenig wie ich zu meinen Geschwistern. Mein älterer Bruder schlug mich ebenfalls oder feuerte unsere Mutter an. Meine kleine Schwester hatte viel Angst und versteckte sich hinter ihr. Früher nahm mich mein Vater oft in Schutz, doch dann haute er ab. Ich hatte niemanden mehr, der mich in Schutz nahm, wodurch sich die Situation stark verschlimmerte. Meine Mutter warf mich auf den Boden, ist auf mich getreten, hat mich mit Sachen beworfen, mit Kabeln geschlagen, mich gewürgt oder meinen Kopf mit einem Kissen zugedeckt. Das passierte fast jeden zweiten Tag, meistens abends. Meine Mutter kam müde und erschöpft von der Arbeit nach Hause und sobald ich etwas kleines Falsches sagte, liess sie alles an mir aus. Ich konnte so gut wie jeden Tag damit rechnen, dass ich heute geschlagen werde.

Ich war nicht immer das einfachste Kind, denn ich konnte nicht damit umgehen, dass mein Vater plötzlich weg war, doch ich habe nie verstanden, warum sie mich schlagen muss. Ich konnte nachvollziehen, dass sie wütend und überfordert war, aber nicht, warum sie das mit Gewalt lösen muss. Ich fragte mich, ob es sie glücklich machte mich leiden zu sehen. Doch ich war jung und naiv und dachte, das sei normal, zudem redete meine Mutter mir dies ständig ein. Sie sagte, sie wurde auch so erzogen und das sei normal. In Sri Lanka, wo wir herkommen, ist Gewalt als erzieherisches Mittel in der Kultur verankert. Meine Mutter wurde früher ebenfalls geschlagen, denn dort gilt das wirklich als normal.

Als ich geschlagen wurde, fühlte ich mich nutzlos, sah keinen Wert in mir und dachte, ich hätte es verdient. Dadurch kamen auch Selbstmordgedanken auf, denn ich wollte mich lieber umbringen, als die ganze Zeit geschlagen zu werden. Andererseits nahm ich es aber auch einfach hin, denn ich dachte, es sei normal, weil meine Mutter mir dies ständig einredete.

Nachdem ich geschlagen wurde, lief ich oft von zu Hause weg und ging zu Freundinnen. Es gab oft Fälle, in denen mich die Polizei suchte, weil meine Mutter sie alarmierte, doch die Polizei schickte mich jedes Mal wieder nach Hause. Sie sagten, das sei normal. Sie wussten, ich wurde geschlagen, und hatten durch meine vielen Verletzungen auch Beweise, doch schickten mich trotzdem zurück. Insgesamt war ich ungefähr sechs oder sieben Mal bei der Polizei und es endete immer gleich, ich musste zurück nach Hause. Dadurch gab ich meine Hoffnung in die Polizei eines Tages auf.

Nachdem meine Mutter mich geschlagen hat, hat sie sich auch dafür entschuldigt, doch das konnte ich nie annehmen und werde es ihr auch nie verzeihen können. Ich sagte immer, es sei in Ordnung und habe alles in mich reingedrängt.

Doch mit vierzehn oder fünfzehn machte ich den ersten Schritt und redete mit meiner Klassenlehrerin in der Sekundarschule darüber. An dem Tag ging es mir sehr schlecht, ich hatte kaum geschlafen, Augenringe und Verletzungen. Meine Lehrerin reagierte sehr geschockt, aber behielt es auf meine Bitte hin erst einmal für sich. Sie fragte dann regelmässig, wie es mir ging. Später wussten alle Lehrpersonen davon und ich erhielt keine Noten mehr.

Eines Tages wurde ich erneut geschlagen, bin daraufhin zu meiner besten Freundin abgehauen und sagte, dass ich nicht mehr nach Hause gehen würde. Vom Sozialamt hatten wir eine Familienbegleitperson, welche regelmässig nachschaute, wie es meiner Familie geht. Diese rief ich dann um zehn Uhr abends über ihre Notfallnummer an und teilte ihr mir, dass ich nicht mehr zurück gehen würde. Daraufhin kam sie zu meiner Freundin nach Hause und sagte mir, ich solle dortbleiben und ohne nach Hause zu gehen am nächsten Tag in die Schule gehen. Die Lehrpersonen würden informiert werden und dann sähen wir, wie es weitergehe. Danach kam ich für fünf Wochen in eine psychiatrische Klinik. Die Zeit dort war für mich die reinste Hölle. Für mich war es noch schlimmer dort zu sein, als zu Hause zu sein. Die Klinik machte mich durch das ganze Mitleid und der ständigen Bestätigung, dass ich da bin, weil es mir eben schlecht geht, nur noch mehr kaputt. In der vierten Woche wurde der Entscheid getroffen, dass ich in eine Pflegefamilie komme. Ich erhielt eine gute Auswahl an Pflegefamilien und konnte in eine Familie, die ich bereits kannte und im gleichen Ort wie ich wohnte. Doch bis dieser Entschied fiel, dauerte es vier ganze Wochen. Die KESB hat vier Wochen lang darüber diskutiert, ob ich wieder nach Hause soll oder nicht. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, denn für mich war klar, wer zu Hause misshandelt wird, soll nicht mehr dahin zurück.

Ich bin durch das alles sehr unsicher und empfindlich, man kann mich sehr schnell wütend machen. Zudem bin ich sehr unzufrieden mit mir selbst und habe starke Vertrauensprobleme. Auch mich zu konzentrieren, fällt mir schwer, denn ich schweife in Gedanken schnell ab. Es liegt die Vermutung vor, dass ich ADHS oder ADS habe, aber das ist noch nicht diagnostiziert. Diagnostiziert bin ich auf Depressionen, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Schlafstörung. Nach dem Klinikkaustritt war ich eine Zeit lang in Therapie, doch das half mir nur wenig. Dann bekam ich Antidepressiva, eins für den Schlaf, eins das mich durch den Tag aufpusht und ein Beruhigungsmittel, weil ich viele Zusammenbrüche hatte. Ich habe aber alle Medikamente abgesetzt, da ich der Meinung bin, dass ich abhängig von einer Tablette nicht wirklich glücklich sein kann.

Es gibt auch heute noch viele Situationen, in denen ich mich gleich fühle, wie wenn ich geschlagen wurde. Abends, wenn ich allein bin, fühle ich mich oft nutzlos und frage mich, wieso ich überhaupt lebe. Auch auf der Arbeit im Altersheim geben mir die älteren Leute öfters das Gefühl von Wertlosigkeit, vor allem da ich dunkelhäutig bin. Vor einigen Monaten hatte ich noch einen Freund, dieser hat mich auch geschlagen. Ich hatte Prellungen, musste zum Arzt und war eine Woche krankgeschrieben. Manchmal schlagen mich auch die Patient*innen im Altersheim. In solchen Situationen bekomme ich oft Flashbacks und denke, dass meine Mutter vor mir steht. Ich fühle mich nutzlos und denke, ich hätte es verdient geschlagen zu werden.

Seit einem Jahr versuchen meine Mutter und ich Kontakt aufzunehmen, doch es endet meistens im Streit. Ich mache nichts allein mit ihr, denn so fühle ich mich nicht wohl. Nicht weil ich Angst habe, dass sie mich schlägt, ich weiss das wird sie nicht mehr, aber weil ich nicht mit ihr allein sein möchte. Sie hat mich so verletzt und ich trage so viele Verletzungen von ihr, dass ich das einfach nicht mehr will. Dadurch kommen immer Freundinnen von mir mit.

Meine Mutter hat ihre Gewalterfahrung weitergegeben, denn sie hat sich einfach so behandeln lassen und nichts dagegen getan, doch ich werde das nicht. Ich habe mich dagegen gewehrt und es geschafft in eine Pflegefamilie zu kommen. Mir ist bewusst, dass Gewalt eben nicht normal ist und nicht zu akzeptieren ist. Ich könnte meine Kinder oder alle sonstigen Personen nie schlagen, denn es ändert nichts, ausser dass diese Person Angst vor mir hat.

Ich finde es sehr schade, dass häusliche Gewalt so ein Tabuthema ist. Man sollte darüber reden, um zu zeigen, dass Gewalt nicht akzeptabel ist. Gewalt ist weder normal noch hinnehmbar. Die Gesellschaft sollte wissen und sensibilisiert werden, Gewalt ist nicht normal.

 

 

 


Quellen

Der Text wurde von Leonie Lüders verfasst, basierend auf einem Interview mit einer gewaltbetroffenen Person.